Von Landkarten, Fallen und Wellenreiten. Gedanken zu Vielfalt und Zukunftsfähigkeit.

Als er einmal nach seiner Lieblingsfarbe befragt wurde, antwortete der Architekt und Bauhausgründer Walter Gropius: „Bunt!“

Wir leben heute in einer überaus bunten, schnellen und eng verflochtenen Welt. Unzählige Gewissheiten der Vergangenheit sind längst über Bord gegangen. Großunternehmen wie Mittelständler agieren auf weltweiten Absatz- und Beschaffungsmärkten. Die digitale Innovationswelle wälzt ganze Branchen um. Kunden und andere Anspruchsgruppen stellen immer höhere Anforderungen an Unternehmen in Sachen Servicequalität und gesellschaftliche Verantwortung. Unternehmenslenker müssen zudem den Klimawandel und demographische Trends adressieren und trotz kontinuierlicher Veränderung für „mentale Stabilität“ im Unternehmen sorgen. Schon allein diese kurze Aufzählung macht deutlich, mit was für enormen Herausforderungen und Unwägbarkeiten Wirtschaften heute verbunden ist.

Manche Unternehmen agieren aus der Defensive heraus und passen sich so gut wie möglich an; andere versuchen, die Zukunft ein stückweit zu antizipieren und entwickeln ihr Geschäftsmodell aktiv lernend weiter. Sie reiten die Welle der Veränderung, um nicht von ihr mitgerissen zu werden. Dabei werden sie getragen von Hochleistungs-Surfboards, die aus Lernfähigkeit, Risikofreude und Engagement der Mitarbeiter gefertigt sind. Moderne Führung, Vielfalt und eine offene Unternehmenskultur machen’s möglich. Zum Zusammenhang von Vielfalt und unternehmerischem Erfolg aus Sicht der Neurowissenschaften äußern sich David Rock und Heidi Grant in einem aktuellen Artikel in der Harvard Business Review.

Komplexität besser bewältigen dank Vielfalt

Wer von Grund auf verstehen will, wie moderne Hochleistungs-Kulturen mit Vielfalt zusammenhängen, dem liefert die  Theorie der komplexen Systeme wertvolle Hinweise, insbesondere die „Regel der erforderlichen Vielfalt“: Sie besagt, dass die Kontrolle über ein externes System nur dann möglich ist, wenn der Handelnde mindestens denselben Grad an Vielfalt aufweist wie das System. Organisationsforscher leiten daraus ab, dass die interne Vielfalt von Organisationen mit der ihrer Umwelt gleichziehen muss. Der Bremer Organisationspsychologe Peter Kruse sprach in dem Zusammenhang auch von der notwendigen „Nutzung kollektiver Intelligenz“. Niemand wird abstreiten, dass diese in Zukunft für Unternehmen immer wichtiger wird.

Die Landkarte ist nicht das Territorium

Die Psychologie liefert eine erhellende Metapher zum Thema. Der Mensch reagiert auf eine unüberschaubare Umwelt reflexartig mit Vereinfachung. Um handlungsfähig zu sein, zeichnet er sich eine imaginäre Landkarte seiner Umwelt: sie prägt fortan seine Vorstellung von „Wirklichkeit“. Aufgrund des begrenzten Erfahrungshorizonts und Wahrnehmungsradars des Einzelnen weisen individuelle Landkarten jedoch zahlreiche weiße, unbeschriebene Flächen auf. Damit sind Entscheidungen, die auf der Betrachtung nur einer Landkarte beruhen, naturgemäß fehleranfällig. Das wird auch nicht besser, wenn man mehrere ähnliche Landkarten betrachtet, wie es bei Leuten mit identischem kulturellen Hintergrund der Fall ist. Man teilt ein ähnliches Bild von der Welt und ignoriert die weißen Flecken. Das ist harmonisch und bequem. Zugleich aber auch engstirnig und mitunter existenzbedrohend, etwa wenn Unternehmen in die so genannte „Trägheitsfalle“ tappen. Der Kollaps von Kodak sei hier als eines der eklatanten Beispiele genannt.

Vielfalt bewusst einsetzen

Kulturelle Vielfalt im Unternehmen hat viele Gesichter: spontan denkt man an international besetzte Teams, doch auch verschiedene Alters- und Berufsgruppen, Geschlechter oder Religionen formieren Subkulturen, die in der Regel unterschiedliche Landkarten produzieren. Vielfalt ist jedoch kein Wert an sich und produziert auch nicht automatisch positive Ergebnisse. Im Gegenteil: Sie ist aufwändig, anstrengend und zuweilen nervraubend für die Beteiligten. Man muss sie aushalten.

Die kanadische Wissenschaftlerin Nancy Adler untersucht seit Jahrzehnten die Effektivität multikultureller Teams. Eine ihrer wesentlichen Erkenntnisse lautet: Nicht die Vielfalt an sich stellt die größte Herausforderung dar, sondern die Art und Weise, in der Manager, Mitarbeiter und Teams sie zu handeln wissen. Haben Teammitglieder einmal gelernt, ihre Unterschiede wertzuschätzen und auf der Metaebene zu reflektieren (d.h. ihre Landkarten übereinander zu legen und so ein vollständigeres Bild der Wirklichkeit zu erhalten), übersteigt die Performance multikultureller Teams die ihrer monokulturellen Gegenparts um Längen. Andernfalls bleiben sie weit dahinter, weil jedes Mitglied dazu tendiert, seine Landkarte als einzig wahre zu betrachten.

Bereits 2013 haben Hewlitt und ihre Kolleginnen im Rahmen einer umfassenden Studie in den USA einen klaren Beweis für den Business Case von Vielfalt erbracht (link s.u.). Sie konnten sechs konkrete Verhaltensweisen identifizieren, die die Innovationskraft von Führungsteams deutlich fördert:

  • dafür sorgen, dass die Stimmen aller gehört werden
  • neue Ideen willkommen heißen und ihnen Raum geben
  • Teammitgliedern Entscheidungsfreiheiten einräumen
  • die Lorbeeren des Erfolgs teilen
  • verhaltensbasiertes Feedback
  • Feedback aus dem Team implementieren.

Führungskräfte, die allen Stimmen im Team dieselbe Aufmerksamkeit widmen, erlangen fast doppelt so viele wertbringende Einsichten und Mitarbeiter in einer “speak up” Kultur erreichen mit einer dreieinhalbfachen Wahrscheinlichkeit ihr  volles Innovationspotenzial.

Trotz der genannten Vorteile belegt eine aktuelle Studie von Ernst & Young, dass Diversity Management in Deutschland immer noch am Anfang steht, wobei die Unterzeichner der Charta der Vielfalt vorangehen.

Zugleich zeigen weitere Untersuchungen, wie die von LinkedIn in Auftrag gegebene und von Bitkom Research durchgeführte Studie „Wie deutsche Unternehmen dem Fach- und Führungskräftemangel begegnen“, dass 99% der befragten Entscheider mit Personal- oder Managementpositionen ausländische Fachkräfte als einen wichtigen Faktor zur Deckung des Fachkräftebedarfs betrachten.

Vielfalts- und Trägheitsfalle umschiffen

Der Nutzen von Vielfalt im Unternehmen kann durch interkulturelles Training und Coaching merklich gesteigert werden. Manager und Mitarbeiter werden sich dabei ihrer eigenen Prägung bewusst und entwickeln gemeinsam die Fähigkeit zur Metakommunikation sowie entscheidende Sozial- und Handlungskompetenzen (z.B. Ambiguitätstoleranz). Dennoch brauchen multikulturelle Teams gerade am Anfang wegen der aufwändigeren Kommunikations- und Aushandlungsprozesse mehr Zeit. Und der x-te weitere Blickwinkel produziert nicht unbedingt wertvolle zusätzliche Erkenntnisse. Jedes Unternehmen sollte daher sorgfältig abwägen, wie viel Vielfalt der Organisation zu einem bestimmten Zeitpunkt gut tut.

Walter Gropius hätte vielleicht gesagt: „Bunt, aber mit Augenmaß bitte.“

Quellen und Links:
  • Adler, Nancy & Gunderson, Allison (2007): International Dimensions of Organizational Behavior. South Western Cengage Learning
  • Breuer, Jochen Peter & Frot, Pierre (2010): Das emotionale Unternehmen: Mental starke Organisationen entwickeln. Gabler
  • Hewlett, S.A. et al. (2013): How Diversity can Drive Innovation, Harvard Business Review 12/2013
  • Kruse, Peter (2004): next practice. Erfolgreiches Management von Instabilität. Gabal
  • Simon, Fritz B. (2015): Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus. Carl Auer
  • Europäische Kommission (2009): Vielfalt am Arbeitsplatz. Leitfaden für kleine und mittlere Unternehmen. 
  • Rock, D. & Grant, H. (2016): Why diverse Teams are smarter, Harvard Business Review 11/2016