Zum Thema: „Digitalisierung und Werteorientierung“ hat Désirée Schubert für das aktuelle Magazin unseres Netzwerkpartners AMC* ein Interview mit Prof. Dr. Dr. Alexander Brink, Professor für Wirtschafts- und Unternehmensethik an der Universität Bayreuth, geführt. Auftakt war sein Vortrag auf dem AMC Frühjahrs-Meeting Ende Mai 2018. Der Fokus des Interviews liegt auf der Versicherungswirtschaft und der Frage, warum Versicherer sich genau jetzt mit Werten positionieren müssen.

In seinem Vortrag dockte Prof. Brink an die jüngsten Skandale der deutschen Wirtschaft in der Autoindustrie an und betonte, dass diese eine gelebte Werteorientierung vermissen lassen. Statt im Sinne eines ehrbaren Kaufmanns zu handeln, zählt vor allem das Geschäft – sogar vor Betrug wird nicht halt gemacht. Auch die Versicherer positionieren sich nicht immer klar, wenn es um Werte geht, so Prof. Brink.

Désirée Schubert (DS): Sie fordern als Wissenschaftler in Zeiten der Digitalisierung eine konsequente Werteorientierung der Unternehmen. Es scheint aber, dass viele Manager, wenn überhaupt, gerade mal das Nötigste tun. Ist die Ausrichtung an Werten denn nun Pflicht oder Kür? 

Alexander Brink (AB): In einem TED-Talk hat der Google In-House Philosoph und Director of Engineering Damon Horowitz seinem Auditorium in eindrucksvoller Weise erläutert, dass wir Menschen mehr mit unseren technischen Endgeräten vertraut sind als mit unseren eigenen Überzeugungen.

Wir haben verlernt, über die normativen Grundlagen unseres Zusammenlebens nachzudenken. Das jüngste Facebook-Beispiel und der Diesel-Skandal zeigen eines: Unternehmen machen Gewinne auf Kosten der Moral. Das liegt keineswegs an schlechten Geschäftsmodellen, sondern daran, dass Unternehmen gegenüber den Kunden ihre Werthaltungen vertuschen.

Wir wollen Gewinne mit Moral und glauben an mehr Gewinne durch mehr Moral. Die neue Wachstumstheorie ist auch eine Wertewachstumstheorie.

DS: Wie soll das mit den Führungskräften funktionieren, die gegenwärtig in den Unternehmen Entscheidungen treffen? Ist das nicht sehr optimistisch?

AB: Ich glaube, das geht sehr gut. Werte bestimmen unser Miteinander nicht nur im Alltag, sondern auch im Beruf – meist allerdings unter- oder unbewusst, wie die psychologische Forschung zeigt. Man redet nicht darüber, weil Werte immer „persönlich“ sind. Werte geben uns Orientierung, sie motivieren, sie schaffen Identität und stiften Sinn. Das wussten schon die griechischen Philosophen. Ein friedliches Zusammenleben ist nur durch eine Werteorientierung möglich. Diese Erkenntnis hat seit fast 2.000 Jahre Bestand.

DS: Warum soll das heute noch unter modernen Bedingungen und in Zeiten der Digitalisierung funktionieren?

AB: Weil Digitalisierung Werteentscheidungen einfordert. Ich kann dem Kunden nicht einfach ein Produkt oder eine Dienstleistung verkaufen. Die Digitalisierung dringt tief in unsere Lebenswelt ein und betrifft lebensentscheidende Prozesse. Denken Sie an die smarte Medizin, das smarte Auto oder das smarte Haus. Damit verlagert sich auch die Kundenansprache. Die Unternehmen haben in den letzten 10 bis 20 Jahren ein Instrumentarium aufgebaut, um Kundenzufriedenheit zu managen. Das reicht heute nicht mehr aus. Auch der Kunde ist komplexer geworden. Das Unternehmen muss nun an den „Werten“ ansetzen, die letztlich die Zufriedenheit beim Kunden auslösen. Neuere Vertriebskonzepte wie cultural branding oder value positioning sind gerade hochaktuell und hochrelevant.

DS: Sie sprechen in diesem Zusammenhang von einem „Red Ocean der Funktionalitäten“ und von einem „Blue Ocean der Werte“? Die Digitalisierung befeuere diese Unterteilung. Was meinen Sie damit? 

AB: Es gibt nur wenige Branchen, die sich einer Wertepositionierung entziehen können. Wenn Vertrauen für ein Geschäftsmodell konstitutiv ist – und das gilt für Versicherungen in besonderem Maße – dann müssen sie sich hinsichtlich der normativen Werthaltung positionieren. Es reicht nicht aus, Fragen auf das know-how und know-what geben zu können. In Zukunft geht es um das know-why.

Digitalisierung befeuert das Wertethema

AB: Die Digitalisierung hat das Werte-Thema erst richtig angestochen. Der Gesetzgeber ist bereits aktiv geworden. Mit der Datenschutzgrundverordnung DSGVO greift die Politik gerade massiv über Restriktionen in den Red Ocean der Funktionalitäten ein. In diesem Red Ocean sammeln sich all die Bedürfnisse (und die zugrundeliegenden Werthaltungen) nach Vernetzung, Zeitersparnis, Vereinfachung, Information, Kostenreduktion etc. Die Investitionsbedarfe werden hier für die Unternehmen immer größer. Und für viele ist der Funktionalitäten-Wettbewerb gegen die Plattform-Monopole nicht mehr zu gewinnen.

Will man als Versicherer wirklich versuchen, besser in der situativen Ansprache der Kunden zu werden als Google? Oder ist es nicht gerade die Stärke eines klassischen Versicherers, beständiger zu sein? Auch unangenehme Themen wie Konsumverzicht ansprechen zu können? Gatekeeper zu haben, die streng die Qualität der Verträge steuern? Das wären z.B. Wertepositionierungen.

Red Ocean vs. Blue Ocean

Die Diskussion um Transparenz und Privatheit bei Facebook sind ein aktuelles Indiz für den Aufbruch aus dem Red Ocean heraus in den Blue Ocean. Transparenz kann ggf. noch per Gesetz definiert werden, Privatheit weniger. Hier kann die DSGVO nur eine minima moralia absichern. Auf dieser Basis geht es dann um Klugheitsentscheidungen, wie man sich im Markt hinsichtlich seiner Werte gegenüber dem Kunden positionieren möchte. Aristoteles hat diese Klugheitsentscheidung phronesis genannt. Es gilt neue Märkte zu erobern, sich bewusst zu machen, für was man steht.

Ja, es geht wieder oder immer noch um den Kunden – es sind schließlich seine Werte und seine Bedürfnisse, die zu den Unternehmenswerten passen müssen, oder umgekehrt die Unternehmenswerte zu den Kundenwerten! Und ja, es geht auch wieder um Gewinne: Zwar nicht mehr um jeden, aber zu einem guten Preis.

Und die Art des Austauschs hat sich geändert: Der Kunde wird in Zukunft für sein Geld, seine Zeit und seine Aufmerksamkeit als Gegenleistung ein „Wertepaket“ erhalten. Frei nach Kants Diktum „Was eine Würde hat, hat keinen Preis“ wird es in Zukunft heißen „Was einen Wert hat, hat einen Preis“.

Erfolgreich werden nur die Unternehmen sein, die ihre Werte klar gegenüber dem Kunden kommunizieren. Und dann auch einhalten, denn Werte-„Versprechen“ sind zu halten, sonst wird man schnell abgestraft. Die Bankenbranche kämpft seit längerem mit diesem Phänomen.

DS: Wie könnte – für Versicherer im Speziellen – in Zeiten der Digitalisierung eine Werteorientierung aussehen?

AB: Also zunächst einmal gibt es die (Rück-)Besinnung auf klassische Werte einer Versicherung. Solidarität, Zusammenhalt in der Gemeinschaft. Hier finden Sie viele Beispiele, die hiermit schon arbeiten. Interessanterweise spielen gerade bei den FinTechs wie Lemonade, friendsurance diese Werte eine Rolle.

Dann gibt es die Themen wie Restitution /Assistance und etwas neuer die Verlängerung der Wertschöpfungskette in den Bereich der Prävention. Die Baloise Gruppe war vor ca. 15 Jahren vermutlich eine der ersten im deutschen Markt und sie haben heute z.B. eine AXA, die das zu einem wichtigen Teil der Strategie erklärt hat.

Digitale Selbstbestimmung und Privacy

Am spannendsten sind sicher die neuen Themen, die sich unmittelbar aus der Digitalisierung ergeben. Hier fordert der Markt doch fast schon zwingend einen „weißen Ritter“ im Bereich der digitalen Selbstbestimmung und Privacy.

Das sind drei grundlegende Bereiche, in denen Versicherer sehr gut starke Wertepositionierungen finden können. Nur um Missverständnissen vorzubeugen: Es ist keine gute Strategie, damit eine schlechte funktionale Performance bemänteln zu wollen. Eine Wertepositionierung muss mit guten Funktionalitäten einhergehen und die Weiterentwicklung von Funktionen sollte auf die Werteebene einzahlen.

DS: Sie beraten und unterstützen ja mit der concern GmbH Unternehmen bei der Entwicklung ihrer Wertestrategie. Nehmen wir an, ein Unternehmen der Versicherungsbranche möchte sich hinsichtlich seiner Werte positionieren. Was empfehlen Sie – wie gehen Sie vor? 

AB: Der Blue Ocean wird gerade erst befahren. Pioniere positionieren sich, Mutige machen den ersten Schritt. Man erinnert sich manchmal an die Entdeckung Australiens: Der Seefahrer James Cook nannte sein erstes Segelschiff „Endeavour“. Es gibt typischerweise eine von vier Initialzündungen für einen solchen Aufbruch in den Blue Ocean der Werte:

  • Neue regulatorische Anforderungen erzwingen eine Umgestaltung von Prozessen. Gibt es damit nicht Chancen für neue Positionierungen?
  • Neue technische Möglichkeiten eröffnen ganz neue Zugänge im Kundenkontakt – sind damit nicht kritische Wertefragen verbunden? Gibt es eine echte Mehrwert-Strategie für deren Entscheidung?
  • Neue Partnerschaften oder Geschäftsbereiche (die solche Werte-kritischen Geschäftsprozesse beinhalten) stehen an – passen wir zusammen? Oder droht ein Cambridge Analytica Szenario?
  • Es wird nach einer neuen zukunftsfähigen Strategie gesucht.

„Graswurzel-Ansatz“ als guter Start

AB: In all den Fällen sollte man sich nach unseren Erfahrungen erst einmal pragmatisch über die Chancen, die Risiken und damit auch über den Scope der Betrachtungen klarwerden. Mit großer Strategie zu starten ist toll, aber häufig brauchen die Themen auch einen „Graswurzel-Ansatz“, also ein organisches Wachstum aus Einzelfragen heraus. Es nutzen hier keine hochphilosophischen Erklärungen, Beratung muss zum Punkt kommen und Lösungen für den Kunden anbieten. Daran wird sie gemessen.

Wer damit beginnen möchte – wir haben gute Erfahrungen mit einem dreistufigen Workshop-Prozess gemacht:

  1. Core-Values: Was sind die Kern-Werte aus ihrer Historie und in ihrem Geschäftsmodell?
  2. Shared Values: Wo liegen Chancen auf neue Lösungen gesellschaftlicher Anliegen?
  3. Promised Value: Wie sind solche Werte heute und perspektivisch vermarktbar?

Wenn sie diese Fragen in einem gut besetzten Managementworkshop und flankiert mit ein bisschen Marktforschung (u.a. bezüglich gesellschaftlicher Strömungen, Meinungsbildung kritischer Gruppen wie z.B. Verbraucherschützern und Generation Y) durchgehen, kommen sie schnell zu einem adäquaten Vorgehensmodell zur Kartographierung des Blue Ocean der Werte.

DS: Vielen Dank für das Interview.

*Der AMC ist das moderierte Netzwerk für die Assekuranz.

Autoreninformation: Prof. Dr. Dr. Alexander Brink, geb. 1970 in Düsseldorf, ist Professor für Wirtschafts- und Unternehmensethik an der Universität Bayreuth und Gründungspartner der concern GmbH, eine auf Corporate Governance, Responsibility und Sustainability spezialisierte Unternehmensberatung mit Sitz in Köln und Bayreuth.