Wer den „roten Faden“ gefunden hat, weiß, wo es lang geht. Orientierung ist sichergestellt, denn das Gleichnis des roten Fadens bezeichnet den Kern von etwas. Ums „Wesentliche“ geht es seit einiger Zeit auch verstärkt in der Nachhaltigkeitskommunikation von Unternehmen. „Wesentlichkeitsanalysen“ oder „Materiality Assessments“ werden am laufenden Band und mit enormem Aufwand durchgeführt, um zu bestimmen, welche Themen sowohl für das Unternehmen als auch für die Stakeholder die höchste Relevanz haben. Das hehre Ziel: Mehr Fokussierung und Priorisierung anstatt bunter Blumensträuße an Maßnahmen und 200-Seiten-Berichte. Bislang verdienen vor allem Agenturen und Grafiker an der Sache. Doch wo die Kreativität blüht, bleibt die Aussagekraft der Darstellung leider allzu oft auf der Strecke.

Wesentlichkeit

„Erfunden“ hat’s die GRI (Global Reporting Initiative), der weltweit führende Transparenzstandard für Nachhaltigkeit. Das in der Finanzberichterstattung schon lange etablierte Prinzip der Wesentlichkeit soll gemäß der 2013 eingeführten G4-Richtlinien übertragen werden auf das Reporting von Non-Financial-Information – sprich Nachhaltigkeit. Prima Sache soweit. Noch besser wäre, würde nicht nur über Wesentliches berichtet, sondern sich auch um Wesentliches gekümmert. Sowohl im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit als auch den „Return on Nachhaltigkeit“ des Unternehmens.

Der rote Faden

Damit sind wir wieder beim roten Faden. Der stammt ursprünglich aus der Seefahrt, genauer gesagt, der englischen Marine. „Sämtliche Tauwerke der königlichen Flotte“ – so erfahren wir bei Goethe in den Wahlverwandtschaften* – „(…) sind dergestalt gesponnen, daß ein roter Faden durch das Ganze durchgeht, den man nicht herauswinden kann, ohne alles aufzulösen, und woran auch die kleinsten Stücke erkenntlich sind, daß sie der Krone gehören“. Goethe erkennt die Schönheit dieses Sprachbilds und nutzt, was als maritimes Corporate Design entstand, um allgemein die einer Sache innewohnende Qualität, ihre spezifische Eigenart zu bezeichnen. Denn diese springt, wenn klar genug umrissen, ins Auge wie bei der Royal Navy im 18. Jahrhundert das Rot im Tauwerk.

Das Wesen eines Unternehmens

Wir möchten – Goethe möge uns verzeihen – das Sprachbild wieder zurückführen auf seinen Ursprung. Denn was der britischen Marine geholfen hat, ihre Kilometer an Tauwerk kenntlich zu machen und vor Diebstahl zu schützen, kann auch heutigen Unternehmen helfen, nicht nur besseres Nachhaltigkeitsmanagement zu betreiben, sondern als Nebeneffekt auch noch ihr Unternehmensprofil zu schärfen. Jede Marke braucht einen roten Faden. Automatische Wiedererkennbarkeit, Greifreflex, Emotionen. Marketingexperten predigen seit langem die konsequente Reduktion auf den Kern der Markenbotschaft. Nebenschauplätze verwirren und verwässern. Und doch kommt Nachhaltigkeit oft genug als reines Add-on daher, als etwas, das übergestülpt und aufgepfropft anstatt wie ein roter Faden ins existierende Unternehmensgewebe eingefügt wird.

Nachhaltigkeitsmanagement, das sich auszahlt

Nur was stimmig ist, überzeugt – was für Strategie, Rhetorik und Design gilt, findet auch auf Nachhaltigkeit Anwendung. „Stimmig“ heißt dann: Passend zum Unternehmenskurs. So wie sich ein einzelner roter Faden ins Segeltau fügt, anstatt als Fremdkörper zu irritieren, soll Nachhaltigkeit im Unternehmenskontext erkennbar nachhaltig sein und gleichzeitig anschlussfähig an die Strategie des Unternehmens. So kommt man zu Managementprozessen und Maßnahmen, die Wirkung generieren und nicht im wabernden Nebel unternehmerischer Betroffenheit verloren gehen.

Nichts davon ist Raketentechnik

Und wie findet man nun seinen unternehmerischen roten Faden? Wie geht das mit der Wesentlichkeit konkret? Einfacher als man denkt. Was es vor allem braucht, ist ein wenig Mut. Denn „wesentlich“ übersetzt sich in den meisten Fällen in „weniger“. Priorisieren, Liebgewonnenes bleiben lassen, einmal alles auf drei oder vier Karten setzen anstatt auf zehn (Maßnahmen). Das Wenige dann aber bitte mit voller Fahrt, damit der rote Faden sich glänzend abhebt aus dem Einheitstauwerk des Marktes. Denn das ist die Gunst der Stunde: Gelungene Wesentlichkeit gibt es noch nicht wie Sand am Meer. Noch kann man punkten mit fokussierter Nachhaltigkeit und Wiedererkennbarkeit – und so Unterscheidbarkeit generieren.

PS: Der GRI ist derweil nichts anzulasten. Sie hat Wesentlichkeit für den Bereich von Nachhaltigkeitsreporting definiert. Natürlich ist es auch im Sinne einer GRI und anderer Nachhaltigkeitsinitiativen, dass Unternehmen Wesentliches auch managen. Es ist jedoch ein Phänomen unserer Zeit, dass in Sachen Nachhaltigkeit der Weg durch die Brust ins Auge oft der kürzeste zu sein scheint. Will sagen: Reporting beeinflusst Management, auch wenn es das Lehrbuch anders will.

* zitiert nach Rolf-Bernhard Essig, Butter bei die Fische. Wie das Meer in unsere Sprache floss, mareverlag 2010