Das Thema „Wesentlichkeit“ ist eine der Säue, die in den letzten Jahren durchs Dorf der Nachhaltigkeitsberichterstattung getrieben wurden. Spätestens seit den G4-Richtlinien der Global Reporting Initiative (GRI)  gehört es zum guten Ton ambitionieren Reportings, eine Wesentlichkeitsmatrix im Nachhaltigkeitsbericht zu featuren, die darüber informiert, welche Themen für das Unternehmen und auch die Stakeholder wesentlich sind. Im Englischen heißt „Wesentlichkeit“ übrigens „materiality“, daher spricht man oft auch von einer „Materiality-Matrix“.

Wesentlichkeit ist ein klassischer Berichterstattungsgrundsatz

Die Betonung der Wesentlichkeit erklärt sich ein Stück weit aus der Historie von Nachhaltigkeitsberichterstattung. Die Transparenz zum gesamten Kanon an Nachhaltigkeitsthemen führte zu sehr umfassenden Nachhaltigkeitsberichten und auch der Frage, ob sich jedes Unternehmen – unabhängig von Größe, Branche und Geschäftsmodell – zu allen Themen äußern muss. Das Prinzip der Wesentlichkeit wurde betont, um die Aussagekraft von Reporting zu stärken, um es kürzer und relevanter zu machen. Der Auftrag an Unternehmen ist, diejenigen Nachhaltigkeitsaspekte zu identifizieren, die für das Unternehmen und die Stakeholder zentral sind. Nur über diese Aspekte soll/muss berichtet werden. Darüber hinaus ist „Materiality“ seit jeher auch ein Grundsatz der Finanzberichterstattung.

Doch eigentlich ist die Frage nach Wesentlichkeit eine strategische

Auch wenn das Wesentlichkeitsprinzip aus der Berichterstattung stammt, ist es nicht losgelöst von Unternehmensstrategie und Nachhaltigkeitsmanagement zu betrachten. Es ist keine reine Pflichtübung für einen guten Nachhaltigkeitsbericht, sondern idealerweise an Prozesse rund um Nachhaltigkeit und das Geschäftsmodell / die Wertschöpfung gekoppelt. Denn natürlich soll das Reporting – trotz berechtigter Einbindung von Stakeholdern – weiterhin ein Spiegel dessen sein, was im Unternehmen tatsächlich geschieht und nicht nur ein Dienst  an den wie auch immer gearteten Interessen der Zielgruppen. Will sagen: Ein Unternehmen soll nicht nur über wesentliche Aspekte berichten, sondern sich primär nur um diese kümmern.

Der Fokus auf wesentliche Nachhaltigkeitsthemen erhöht den Marktwert um über vier Prozent

Dass es sich für Unternehmen finanziell auszahlt, sich mit den wesentlichen – und ausschließlich den wesentlichen! – Aspekten ihrer Geschäftstätigkeit zu beschäftigen und darüber zu berichten, weist die 2016 von Forschern der Harvard Business School veröffentlichte, umfassende Studie „Corporate Sustainability. First Evidence on Materiality“ nach. Sie basiert auf Daten des MSCI KLD, der für amerikanische Firmen auch historisch weit zurückreichende Nachhaltigkeitsdaten vorhält (ausgewertet wurden die Jahre 1991-2013). In Anlehnung an die Wesentlichkeitsdefinition des amerikanischen, branchenbasierten SASB-Standards (Sustainability Accounting Standards Board) wurde untersucht, ob und wie der Markt auf den Umgang mit wesentlichen und nicht-wesentlichen Nachhaltigkeitsthemen reagiert. Als Ergebnis wurde jeweils das Alpha ausgewiesen, eine Kennziffer, welche die abweichende Wertentwicklung gegenüber dem Benchmark ausweist. Je stärker das Alpha im Plus ist, desto größer die Outperformance gegenüber dem Durchschnitt.

Die Ergebnisse sind – mit Verlaub gesagt – verblüffend:

Wesentliche-CSR                    Nicht-wesentliche CSR                   Alpha

schwach                                 schwach                                        -2,20%

schwach                                 stark                                              -0,38%

stark                                       stark                                               1,50%

stark                                       schwach                                         4,38%

Zum einen zeigt sich, dass Unternehmen, die sich weder um wesentliche noch unwesentliche Themen kümmern oder intensiv um unwesentliche Themen, vom Markt abgestraft werden mit einer unterdurchschnittlichen Performance (negatives Alpha gegenüber dem Benchmark). Weiterhin ist bemerkenswert, dass Unternehmen, die sich um ganz viele Themen (wesentliche und unwesentliche Themen) kümmerten, den Benchmark nur leicht übertrafen (1,50%). Die überdurchschnittliche Marktperformance von 4,38% konnte nur Unternehmen nachgewiesen werden, die sich ausschließlich mit wesentlichen Themen beschäftigen.

Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn Unternehmen in Kenntnis dieser Zahlen die strukturierte Analyse von Wesentlichkeit perspektivisch nicht stärker in Strategieüberlegungen einbezögen, sondern sie weiterhin lediglich als Element eines belastbaren Reportings verstünden.

Quelle: Mozaffar Khan, George Serafeim, and Aaron Yoon (2016) Corporate Sustainability: First Evidence on Materiality. The Accounting Review: November 2016, Vol. 91, No. 6, pp. 1697-1724.